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  • Zwei Leben: Hanns und Rudolf

    Zwei Leben: Hanns und Rudolf

    Thomas Hardings Doppelbiografie hatte ich in der Buchhandlung oft in der Hand, aber immer wieder beiseite gelegt. Zu Weihnachten nahm ich sie endlich mit. Eine gute Entscheidung, denn die ruhigen Feiertage waren ideal, um mich auf dieses Buch einzulassen.

    Zwei gegensätzliche Lebenswege, von der Geburt bis zum Tod: Eine der beiden Personen, Rudolf Höß, hat Einzug in die Geschichtsbücher gehalten. Nicht als Held, sondern wegen unvorstellbarer Verbrechen gegen Menschlichkeit und Menschenwürde. Als KZ-Kommandant installierte Höß die Tötungsmaschinerie im Lager Auschwitz. Unter seiner Verantwortung wurden über eine Million Menschenleben ausgelöscht. Der andere, Hanns Alexander, ein jüdischer Emigrant, hat ihn nach dem Krieg verfolgt und schließlich festgenommen. So konnte Höß beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess als Zeuge aussagen und später selbst vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt werden. Hanns Alexander steht in keinem Geschichtsbuch, aber in einem nahen Verwandtschaftsverhältnis zum Autor.

    Hanns Alexander lebte in London, arbeitete bei einer Bank, engagierte sich in der örtlichen Synagoge. Um seine Jugend in Deutschland und seinen Dienst beim britischen Militär machte er nicht viel Aufhebens. Erst nach Hanns‘ Tod erfährt Thomas Harding, dass sein Großonkel einen der größten Nazi-Verbrecher dingfest gemacht hat. Wie konnte es dazu kommen?

    Um das herauszufinden, schaut Harding nicht nur in die eigene Familiengeschichte. Im Wechsel zeichnet er die Wege der beiden Männer nach. Als Erzähler bleibt er zurückhaltend. Er stellt Zeitzeugnisse in den Vordergrund, lässt Briefe, Fotos, Interviews und Gerichtsakten für sich sprechen. So entwickelt sich nach und nach ein Bild von Hanns und Rudolf. Dass der Autor die beiden durchgängig beim Vornamen nennt, entspricht seinem fast intimen Zugang zu ihrer Geschichte. Harding stellt sie nicht als Prototypen für Täter und Opfer, Verfolger und Verfolgte dar, sondern zeigt sie in Nahaufnahme. Zwei Menschen, die durch ihre Zeit und ihr Umfeld geprägt sind. Menschen, denen sich unterschiedliche Handlungsräume eröffnen. Menschen, die Entscheidungen verantworten – privat, beruflich, politisch. Offen, beinahe neutral, erforscht Harding, was die beiden antreibt, welche Erfahrungen, Begegnungen und Werte ihr Handeln bestimmen.

    Von Anfang an zeigt sich, wie wenig die Lebenswelten von Hanns und Rudolf gemeinsam haben, auch wenn beide im gleichen Land aufwachsen. Mit der Machtergreifung Hitlers ist der Bruch dann vollkommen. Rudolf stellt sein Leben ganz in den Dienst des Nationalsozialismus und wird zu einem Mastermind der Vernichtung. Familie Alexander entgeht der Verfolgung, weil sie sich rechtzeitig für die Emigration entscheidet. Zurück bleiben aber Freunde, Angehörige und die gewohnten Lebensverhältnisse. Auf ewig im Gepäck ist das Wissen, wie schnell Hass, Gewalt und Verachtung eine vermeintlich aufgeklärte Haltung in der Gesellschaft verdrängen können.

    Wie lebt es sich, wenn die eigene Geschichte so eng mit dem Holocaust verknüpft ist? Auch diese Frage erforscht Thomas Harding aus zwei Perspektiven. Mutig geht er auf Angehörige und Nachkommen des KZ-Kommandanten zu. Am Ende des Buches steht ein Besuch in Auschwitz. Gemeinsam mit Höß‘ Schwiegertochter und Enkel sucht er den Ort auf, an dem Rudolf Höß die Ermordung unzähliger Menschen organisierte. Den Ort, an dem er schließlich selbst als Kriegsverbrecher hingerichtet wurde. Diese Begegnung bildet ein stimmiges Finale, erschütternd und irritierend wie das gesamte Buch.

    Die Doppelbiografie von Hanns Alexander und Rudolf Höß macht Geschichte fassbar, richtet den Blick auf die Verantwortung des Einzelnen und lässt keinen Raum für bequeme Ausreden. Es waren nicht Monster, sondern Menschen, die NS-Diktatur und Holocaust hervorbrachten. Millionen einzelner Personen und ihre Entscheidungen, Tag für Tag. Das ist nicht neu, aber sehr eindrücklich erzählt. Storytelling im besten Sinne.

    Das Buch ist gut lesbar, auch für Personen, die bisher noch wenig Wissen über die NS-Zeit mitbringen, denn die historischen Hintergründe werden entlang der beiden Lebensgeschichten miterzählt. Wer sich über die kühlen Fakten hinaus mit den schlimmsten Seiten der deutschen Vergangenheit auseinandersetzen möchte, findet in diesem Buch einen guten Einstieg, darf aber nicht davor zurückscheuen, dass die Lektüre emotional sehr nahe gehen könnte.

    Der Verlag Jacoby & Stuart hält eine Leseprobe bereit und bietet Infos zu weiteren Büchern des Autors. Auf der Website von Thomas Harding finden sich ergänzende Videos, unter anderem sein Interview mit Höß‘ Tochter Brigitte.

    *Hanns und Rudolf habe ich selbst gekauft. Für meine Einschätzungen spielt es keine Rolle, ob ich ein Buch gekauft, als Rezensionsexemplar oder Geschenk bekommen oder in einem Bücherschrank gefunden habe.